Die Schlinge

Daß, was Eukleides demonstrirt, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der That sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich. Fast immer kommt die Wahrheit durch die Hinterthür herein, indem sie sich per accidens – lateinisch zufällig – aus irgend einem Nebenumstand ergiebt. Oft schließt ein apagogischer – griechisch indirekter – Beweis alle Thüren, eine nach der andern zu, und läßt nur die eine offen, in die man nun bloß deswegen hinein muß. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn und den Assensus – lateinisch die Zustimmung – des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwundert zugeben muß, was ihm seinem innern Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt […]

(Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Erstes Buch, § 15. 1819. Quelle: www.zeno.org)